Johannes Meinhardt
Beunruhigende Schönheit
I.
Der Raum, den Ea Bertrams in den Gartensaal der Sammlung Domnick hineingebaut hat, lässt eine sehr eigentümliche Art der Ortsbezogenheit sichtbar und spürbar werden: Ea Bertrams’ Raum artikuliert nicht so sehr den vorgefundenen Ort, macht ihn nicht primär sichtbarer und durchschaubarer, sondern stellt sich gegen ihn. Sie greift die historischen, kunst- und kulturgeschichtlichen Implikationen dieses Raumes und der ganzen Sammlung Domnick auf, ihrer Architektur, ihrer Funktion als Ort der Bewahrung einer Sammlung, die deutlich selbst einen historischen Zeitpunkt der Moderne festhält, quasi einfriert. Sowohl die Architektur des Hauses als auch die Gemäldesammlung Domnick stehen auf dem noch ungebrochenen Stand der modernen Avantgarde um 1960, kurz vor der grundsätzlichen Infragestellung der Moderne. Und gegen diese Moderne, die auch die Moderne ihrer Eltern ist, grenzt sie sich künstlerisch ab.
In der Wahrnehmung Ea Bertrams’ ist die Architektur der Sammlung Domnick, und damit auch des Gartensaals, vor allem dunkel, beengend. Ihr konstruierter Raum, der die Maße des Gartensaals aufgreift, ihn verkleinert, ihn aber auch verdeckt oder weitgehend unsichtbar macht, setzt sich gegen die starke Präsenz dieser Architektur und dieser Kunst. Dieser Raum und dieses Gebäude sind für sie ein mortifizierter Augenblick, eine Art plastische Fotografie der Avantgarde um 1960.
Ein wichtiger Aspekt der Raumkonstruktion von Ea Bertrams ist es, die Sammlung Domnick als ein kunst- und kulturgeschichtlicher Ort sichtbar zu machen, indem sie ihre Arbeit und ihren Raum, wörtlich und metaphorisch, gegen sie stellt. Aber fast noch stärker arbeitet sie in ihrer Raumkonstruktion mit jener Beziehung, die sie biographisch mit der Sammlung Domnick verbindet. Die auf den schwarzen Innenwänden ihres Raums weiß geschriebenen Sätze, von denen ihr besonders wichtige durch Umrandungen herausgehoben werden, stammen aus Ottomar Domnicks avantgardistischem Film„ohne datum“ von 1962. Dieser radikale Film konstruiert den inneren Monolog oder den Bewusstseinsstrom eines Mannes, der unheilbar an Lungenkrebs erkrankt ist; zu einem von einem Sprecher gesprochenen Text, dem inneren Monolog, zeigt der Film Szenen der medizinischen Behandlung, Erinnerungen an wichtige, frühere Erlebnisse und Begegnungen, Assoziationen und Wunschbilder des Todgeweihten. Die Freundin des Protagonisten in diesem Film war die Mutter von Ea Bertrams, die selbst nach langer Krankheit früh starb. Auch die Klanginstallation, die in ihrem dunklen Raum zu hören ist, verwendet Teile der Tonspur dieses Films: den Monolog des Sprechers, aber auch Realgeräusche und Klangcollagen aus dem Film.
II.
Die künstlerische Reaktion von Ea Bertrams auf den vorgefundenen Raum und die Architektur der Sammlung Domnick ist offensichtlich nicht nur analytisch-reflexiv, sondern vor allem affektiv; sie reagiert auf die für sie doppelt, nämlich kulturgeschichtlich und biografisch aufgeladene Situation mit existentiellen, sowohl durch ihre künstlerische Subjektivität als auch durch psychische, libidinöse und aggressive Impulse angeregten Verfahrensweisen und Arbeiten. Die künstlerischen Entscheidungen von Ea Bertrams sind auf diese Weise überdeterminiert.
Diese erste Überdetermination wird durch eine zweite, von der ersten ableitbare Überdetermination überlagert: einerseits bringen die Verfahrensweisen Ea Bertrams den Produktionsprozess als eine eigenständige, nicht einem Ziel untergeordnete Aktion hervor, andererseits sind die organischen, gespannten (oder auch schlaffen, spannungslosen) Häute, mit denen sie arbeitet, affektiv aufgeladen und so außerordentlich bedeutungsvoll. Ihre Verfahrensweisen bringen ein offenes Werden hervor, in dem das repetitive Vorgehen der Künstlerin – ein Voranarbeiten, das sich den Materialbedingungen fügt –, die physikalischen Eigenschaften der eingesetzten Materialien und die daraus erwachsenden Materialprozesse in einem beträchtlichen Grad eigenständig sind und sichtbar bleiben, nicht in einem Ergebnis untergehen.
Was in der sichtbaren Arbeit Ea Bertrams’, im sich wiederholenden, langwierigen Voranarbeiten, und in den physikalischen Prozessen des Materials – in denen einerseits die Wirkungen der Schwerkraft, andererseits die Wölbungen und Schwellungen organisch gespannter Häute oder Oberflächen am wichtigsten sind – entsteht, bleibt tendenziell offen, dem Prozess überlassen. Claude Lévi-Strauss hatte solche Verfahrensweisen als Bricolage (Zusammenbauen, `Basteln ́) bezeichnet, im Gegensatz zur rationalen technischen Konstruktion. Das ist bei ihm eine offene Verfahrensweise, dazu fähig, „sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben.“1 Solches Arbeiten mit den vorhandenen Mitteln will nicht ein bestimmtes Ziel erreichen, sondern vielmehr die vielfältigen Möglichkeiten und Mehrdeutigkeiten, die Aufladungen und affektiven Implikationen des Materials nutzen. „Im Unterschied zum Ingenieur macht er (der Bricoleur) seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d.h. mit einer steht begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind.“
Künstlerische Arbeit hat, für Lévi-Strauss, immer schon mit Bricolage zu tun, da künstlerische Arbeit sinnerfüllte und expressive, aber nicht funktionale Gegenstände erzeugt. „Jeder weiß, daß der Künstler zugleich etwas vom Gelehrten und etwas vom Bastler hat: mit handwerklichen Mitteln fertigt er einen materiellen Gegenstand, der gleichzeitig Gegenstand der Erkenntnis ist.“ 3 Aber die Verfahrensweisen von Ea Bertrams zeigen solche Aspekte in einem besonders ausgeprägten Maße. Zusammenbauen liegt, auf die Kunst bezogen, zwischen Komposition und Konstruktion, zwischen dem für die Moderne meist üblichen genialischen Schaffen, das sich seine Mittel sucht oder sogar selber schafft, und dem in den Krisen der Moderne (etwa im Konstruktivismus) und nach dem Zusammenbruch der Moderne auftretenden gesetzmäßigen, durch ein Prinzip oder eine Regel geleiteten systematischen Herstellen. Die spezifische Überdetermination des `Bastelns ́ wurde von Lévi-Strauss als poetische Potenz beschrieben: „Das Poetische der Bastelei kommt auch und besonders daher, daß sie sich nicht darauf beschränkt, etwas zu vollenden oder auszuführen; sie spricht nicht nur mit den Dingen, … sondern auch mittels der Dinge: indem sie durch die Auswahl, die sie zwischen begrenzten Möglichkeiten trifft, über den Charakter und das Leben ihres Urhebers Aussagen macht. Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein.“
Die hauptsächlichen Techniken, die Ea Bertrams einsetzt, sind klassische weibliche Techniken der Handarbeit: Stricken, Häkeln, Zusammennähen und Aufspannen. Sie erzeugt Gewebe oder textile Texturen und verarbeitet diese weiter zu Objekten und Räumen; sie schafft Räume, die mit Zelten vergleichbar sind, aus gespannten Geweben, die der Schwerkraft gehorchen und deswegen durchhängen, einfach gekrümmte oder gekurvte Flächen ergeben. Und umgekehrt, wenn diese gekrümmten Gewebe oder Texturen Hohlformen oder Hohlkörper ergeben, mit Schläuchen, Blasen, Därmen, inneren Organen vergleichbar, werden sie durch ihre Ausfüllung, durch Ausstopfen gespannt – analog zu organischen Schwellungen und Wucherungen, denn alle inneren Organe und Innereien sind gespannte organische Häute, die ein schwellendes Gewebe umschließen (die Haut des Körpers ist dabei das Organ par excellence).
Ein Analogon zur Spannung von leiblichen Organen, im Biologischen dem lebendigen Wachstum entspringend, entsteht hier durch Häute, die aus organischen, weichen Materialien durch Verflechtung, Verwebung entstanden sind und die selbst unter Spannung stehen: unter der Materialspannung des Gewebes, unter der Spannung durch die Schwerkraft, unter der Spannung durch die Schwellung des Inneren; alle diese Spannungen erzeugen, im Biologischen wie im Physikalischen, Spannungsfelder, Verläufe von energetischen Vektoren, die als Spannungslinien sichtbar werden. Übrigens gibt es bei den artifiziellen Häuten, den Geweben, die Ea Bertrams herstellt, auch ein Analogon zum Verlust der Spannung im Biologischen: das Schlaffwerden und Schrumpeln der Gewebe, wenn sie nicht ausgestopft sind. Daran ließe sich eine ganze Phänomenologie der gespannten Flächen oder Häute anschließen, die ebenso wie die Haut des Körpers und der inneren Organe alle Arten von Kleidung und von textilen Bauten (Zelt, Iglu etc.) umfassen würde: Umhüllungen und Höhlungen, Aus- und Einstülpungen.
In einem tiefgreifenden Gegensatz zu allem funktionalem Einsatz der (für uns heute) weiblichen Kulturtechniken des Strickens, Häkelns und Nähens – und auch wenn für Ea Bertrams ihre Arbeit durchaus mit Bekleidung und Hülle zu tun hat, mit Schutz und Bedeckung – ist ihr Gebrauch weicher Materialien (zu denen verschiedene Garne gehören, Wolle, Pferdehaar, Gummi, Latex) nicht schon durch ein zu erreichendes Ergebnis determiniert, sondern entfaltet sich in einem offenen Prozess, der in einem spezifischen Sinn expressiv genannt werden kann. (Es ist kein Zufall, dass Ea Bertrams Interesse an Kunst mit expressionistischer Malerei und vor allem Plastik begonnen hatte.) In diesem Prozess entstehen unverständliche, teilweise erschreckende organische Formen unabhängig von allen Vorbildern in der Natur, von aller Wiedererkennbarkeit.
Was diesen organischen, weichen oder eher schwellenden, gespannten Objekten und Geweben am ehesten gleicht, sind ethnologische Objekte: Objekte, bei denen, für moderne Betrachter, drei sehr unterschiedliche Register der Wahrnehmung und des Gebrauchs gleichzeitig und ununterscheidbar anwesend sind: ein Register der Funktionalität oder der Anspielung auf Funktionalität; ein Register der affektiven Aufladung, im ethnologischen Kontext vor allem der Aufladung durch rituellen, magischen und mythischen Gebrauch im Rahmen eines magischen und mythischen Weltverständnisses; und ein ästhetisches Register, das für uns mit der Kategorie `Kunst ́ untrennbar verknüpft ist. So wie wir heutigen Betrachter bei ethnologischen Objekten eine untrennbare Vermengung von Funktionalität (und seien es abgeleitete, rituell-symbolische Funktionen), von religiös-magisch-mythischer Bedeutung oder Symbolkraft (wir können die mythische Aufladung wahrnehmen, auch wenn wir die einzelnen Bedeutungen nicht kennen) und von ästhetischem Wert oder Schönheit erfahren, die eine nicht auflösbare Vieldeutigkeit bewahrt, so spielen in den Arbeiten von Ea Bertrams ein biologisches und kulturelles, pseudofunktionales Register, ein affektives oder sogar psychisch-libidinöses Register und ein ästhetisches Register ineinander.
Die Prozessualität des Strickens, Häkelns und Nähens in der Arbeit von Ea Bertrams wird besonders dadurch deutlich, dass sie in hohem Grade `Fehler ́ zugelassen und sogar erzeugt hat, an denen im Prozess Störungen, insbesondere Löcher entstanden sind. Aber nicht nur Löcher, sondern auch Ausfransungen, heraushängende Fäden, Verdickungen und Verknotungen erinnern an den Prozess der Herstellung. Mindestens genauso stark verweisen diese Löcher, Fehler und Ausfransungen auf gesellschaftliche und psychische Kategorien: diese Gewebe sind unordentlich, zerrissen, sie verstoßen gegen verschiedenste psychosoziale Regeln (vor allem der Kleidung). Diese Löcher demonstrieren so einerseits die Offenheit des Verfahrens, das gerade nicht technisch perfekt, sondern sowohl leiblich-expressiv als auch subjekt-expressiv ist; aber andererseits verknüpfen sich mit ihnen unabweisbar affektive Implikationen, die in einem körperlichen Register mit der Wunde zu tun haben, mit der Verletzung oder Durchlöcherung der Haut, und in einem sozial-psychischen Register mit dem Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln, bis hin zum Ordinären und Obszönen.
III.
Ea Bertrams versteht sich im Wesentlichen als Zeichnerin. Und offensichtlich sind die linearen Verknüpfungen und Verkettungen, welche das Garn beim Stricken und Häkeln bilden, Vernetzungen, die dem Zeichnen nahe stehen: lineare Schleifen oder Schlingen, die repetitiv in einer kontinuierlichen Bewegung der Wiederholung geschaffen werden, die sich aber durch die Störungen und Durchlöcherungen individualisieren – sich negativ individualisieren, durch Abweichungen, Beschädigungen und Gebrauchsspuren. Dort, wo sie die sehr unterschiedlichen Gewebe, die sie erzeugt hat, vernäht, entstehen darüber hinaus Raumzeichnungen, Linien, die aus dem Aneinanderstoßen gespannter Gewebe entstehen.
Die Ausweitung der Zeichnung von der Fläche in den Raum beruht bei Ea Bertrams, wie etwa in den frühen Arbeiten von Günter Brus, vor allem darauf, dass der expressive Drang, der sich auf der Grundlage existentieller Erfahrungen und psychischer Impulse in der Zeichnung artikuliert, nach Ausweitung drängt: Ausdehnung des zeichnerischen Einsatzes (von der Hand auf den ganzen Körper), Ausweitung des körperlichen Einsatzes hin zu einer den ganzen Körper einbeziehenden Performance, und Ausdehnung der zur Verfügung stehenden Träger der Einschreibung – der ganze Raum erfüllt sich mit der expressiven Selbstartikulation des agierenden Körpers und Subjekts.
Auch dort, wo Ea Bertrams explizit zeichnet, stehen diese Zeichnungen einer repetitiven Arbeit der Verschlingung nahe; im Prozess des Zeichnens und sich wiederholend erzeugt sie Schleifen und Schlingen, Kreise und Loops, die ihrerseits eine spezifische Textur, ein zeichnerisches Gewebe hervorbringen, das sich durch monotone und obsessionelle Wiederholung auszeichnet. Selbst wenn die einzelnen Linien, wie in einigen ihrer Videoarbeiten, sich nicht verschlingen, erzeugen sie netzartige, repetitive Fakturen.
Zeichnen, Malen, Stricken, Häkeln und sogar Schreiben hängen also für Ea Bertrams eng zusammen. Schon ihre Wandmalereien auf den Innenseiten des von ihr konstruierten Raums vereinigen auf der Grundlage linearer Verfahrensweisen Zeichnen, Malen und Schreiben. Neben selbständigen längeren geschriebenen Passagen sind kaum entzifferbare, manchmal verwischte Sätze, Satzfragmente und Wörter in den Zeichnungen zu finden, Sätze, die für Ea Bertrams wichtig oder suggestiv bedeutungsvoll sind. Die Künstlerin hatte sich schon in einigen früheren Rauminstallationen dafür entschieden, Wände mit Texten zu beschreiben.
Dass bei Geschriebenem jedoch eine explizite, sprachliche Semantik zum expressiven Wert der Linie hinzutritt, bringt eine weitere Ebene der künstlerischen Auswahl ins Spiel, die Ebene der sprachlichen Bedeutung. Interessanterweise zeigen die Texte, die sie ausgewählt hatte, Gemeinsamkeiten in zwei sehr unterschiedlichen Bereichen. Für ihren Raum in der Sammlung Domnick hat sie den gesamten Text verwendet, den der Sprecher in Ottomar Domnicks Film „ohne datum“ als inneren Monolog der Hauptperson spricht; und literarische Texte, die um die Frage nach der Identität des Subjekts kreisen, haben sie schon lange beschäftigt – so etwa die Romane und Tagebücher von Max Frisch. Und andererseits hat sie Fragmente aus den fast monomanen, in endlosen Schleifen sprachlich und inhaltlich um sich selbst kreisenden Texten von Elfriede Jelinek aufgegriffen und geschrieben.
IV.
In der Kunst der Moderne bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde das Kunstwerk als etwas Überzeitliches, den Bedingungen von Zeit, Raum, Kausalität und damit auch Entropie (oder Verfall) Entzogenes verstanden. Die Künstler setzten langlebige, unverwüstliche, stabile Materialien (Farben, Metall, Stein) ein, die sich möglichst nicht veränderten, nicht alterten, und auf diese Weise eine fast ideale materielle Identität mit sich selbst bewahrten. Der Betrachter existierte gegenüber dem modernen Kunstwerk, das seine wesentliche Identität im Geistigen besaß, das als materieller Träger und Transporteur von Bedeutung und Ausdruck verstanden wurde, nur als abstrakter, leibloser Blick, als reines Bewusstsein, dem sich ein reines Erkenntnisobjekt, beziehungsweise, damit eng verwandt, ein ästhetisches Objekt gegenüberstellte.
Die einzigen Künstler, die schon vor der Krise der Moderne in den sechziger Jahren darauf reflektierten, dass Gegenstände dem Individuum nicht nur als reine Objekte entgegentreten, waren die Surrealisten. Sie stellten fest, dass alle Gegenstände, dass Objekte generell mit dem Subjekt auf sehr unterschiedliche Weisen verknüpft sind; und dass die leiblose, ästhetische oder erkennende Beziehung – wie das Bewusstsein generell – nur ein Oberflächenphänomen des psychischen Apparates ist. Für die Surrealisten ganz entscheidend wurde deswegen, die verdeckten, unbewussten, affektiven, libidinösen oder aggressiven Aufladungen der Objekte freizulegen. Diese Aufladungen sind mit dem Körper und der Psyche verkoppelt: alles, was mit archaischen psychischen Prozessen wie der Einverleibung oder dem Ausstoßen, mit der Begierde nach Konsumption oder dem aggressiven Abscheu zu tun hat, hat mit dem Körper und seiner Identität zu tun.
In den sechziger Jahren, mit dem Zusammenbruch des modernen, idealistischen Verständnisses von Kunst, begann eine Reihe von Künstlern, Objekte unter dem Blickwinkel ihrer Besetzung und Aufladung beziehungsweise ihrer Verkopplung mit der Psyche – der Subjektivität, der mit dem Körper und seiner Begrenzung und Abgrenzung verknüpften Affekte oder der libidinösen Ordnung des Unbewussten – zu erforschen und zu benützen. Der Anfang bei amerikanischen Künstlern war noch ziemlich harmlos: Robert Morris stieß im Rahmen seiner Überlegungen zur Anti-Form (Allan Kaprow stellte ähnliche Überlegungen an) auf weiche Materialien wie Filz und Gummi, die, an der Wand aufgehängt, ihre jeweilige Form situativ durch die Schwerkraft annehmen; seine Überlegungen zur Anti-Form trieb er bis zu undurchschaubaren, unkontrollierbaren Ansammlungen von Abfall und Schmutz („Dirt“, 1968). Claes Oldenburg erzeugte für den „Store“, 1961-62, grobe und schnell verfertigte, grellfarbige Objekte, die auf den schnellen optischen Konsum ausgerichtet waren und dementsprechend nur flüchtig hinter einer Schaufensterscheibe gesehen werden sollen (als Konsumobjekte, als Objekte für schnelle Lüste); etwas später nähte er Waschbecken oder andere feste Körper als hängende „weiche Skulpturen“ aus Leinwand zusammen; vor allem aber entdeckte er in einem ehemaligen Lagerhaus für Scherzartikel und ähnliches eine ganze Klasse von Objekten, die nur durch ihre affektive oder sentimentale Aufladung funktionieren: Souvenirs, religiöse oder patriotische Objekte, Spielzeug (Ray Guns). Eva Hesse, wie vor ihr schon Piero Manzoni, ließ die strenge Geometrie der Minimal Art entgleisen, indem sie ab 1964/65 weiche, sich teilweise zersetzende Materialien wie Naturkautschuk, Glasfaser und Polyester einsetzte. Louise Bourgeois schuf explizit psychisch und affektiv aufgeladene Skulpturen, Objekte, die gegenständliche Verweise enthielten, die ihre psycho-biographisch determinierte Bedeutung jedoch erst in dem Maße zugänglich machten, wie die Künstlerin ihre private psychische Welt der Verletzungen, der Verdrängungen, der Aggressionen für die Öffentlichkeit formulierte.
In Europa gingen einige Künstler wie Joseph Beuys, Dieter Roth und Daniel Spoerri – aber auch andere Fluxuskünstler und Künstler der arte povera – noch einen entscheidenden Schritt weiter: sie verwendeten organische Materialien, Pflanzen und Tiere, tierische Produkte, medizinische und hygienische Materialien, organische Abfälle. Solche Materialien verändern sich, sie zerfallen und verfallen, und leben in diesen Verfallsprozessen biologisch weiter: sie stinken, sie ziehen Insekten an, sie verflüssigen sich – sie demonstrieren den Zerfall und damit die Instabilität und Nichtidentität des organischen Körpers; und diese Materialien verkoppeln sich aufs Engste affektiv und libidinös mit dem Körper (besonders mit dem eigenen Körper des Betrachters). Sie werden normalerweise nicht als eigene, selbstständige Objekte wahrgenommen, sondern nur als Anhänge an den Körper und Abtrennungen vom Körper, als einzuverleibende oder auszustoßende körperliche Substanzen empfunden. Der gesamte Bereich des Stoffwechsels, der Nahrung und der Ausscheidungen, der Verletzung und der Wunde (Joseph Beuys benannte das psychische Zentrum seines ganzen Werks mit der Installation „Zeige deine Wunde“, 1974-75), und zuletzt des Todes, des Untergangs der Körper, ist so stark affektiv aufgeladen und mit psychischen Inhalten kontaminiert, dass eine neutrale, abstrakt-leiblose Wahrnehmung solcher Objekte und Substanzen nur schwer möglich ist.
In den Arbeiten von Ea Bertrams geht es offensichtlich nicht um organischen Zerfall; doch können die durchhängenden Gewebe mit Löchern, Ausstülpungen und Nähten, die Umhüllungen in der Form von Blasen, Schläuchen, Gedärmen oder auch von komplexeren, gegliederten Organen, die Seile, Knoten und Verschlingungen aus Wolle oder Pferdehaaren andererseits kaum als abstrakte plastische Körper aufgefasst werden. Als Formbildungen aus organischem Material, die nicht aus der Geometrie stammen, sondern vom Körper abgeleitet sind, werden sie nicht rein visuell, in einer körperlosen geistigen Welt der intellektuellen Sichtbarkeit wahrgenommen, sondern vor allem haptisch: als andrängende Körper, die sich der Hand und den leiblichen Sinnen anbieten und deren grundlegende Verwandtschaft mit dem eigenen Körper für eine leiblich-mimetische, leiblich mitvollziehende Empfindung deutlich ist. Aufgrund ihrer mimetischen und leiblich empfundenen Ähnlichkeit mit dem eigenen Körper lösen sie sich nicht ab vom Fleisch, werden sie keine reinen Objekte, sondern sie bleiben dem Körper verhaftet. In einem gewissen Sinn kleben sie am Körper, schmiegen sich ihm kaum abtrennbar an – so dass ihre Identität schwankend und problematisch bleibt: Sind Kleidungsstücke oder andere leibliche Hüllen und – noch ausgeprägter – sind Haare eher Bestandteile des Körpers oder davon getrennte, eigenständige Wahrnehmungsgegenstände?
Von den biologischen oder textilen Phänomenen der Spannung und des Verdeckens, der Durchlöcherungen und der Durchblicke, des Schwellens und Aufschwellens, des Wucherns und Verfallens aus eröffnet sich auch eine mehrstufige libidinöse Erotik: erstens eine Erotik des weichen Körpers, des weichen Fleisches, das in Form gebracht und gehalten wird durch Umhüllungen (eine Erotik eher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts); eine Erotik des gleichzeitigen Verbergens und Enthüllens, der Spitzen und Schleifen, der Transparenz und des Durchblicks; und zuletzt eine zeitgenössische Erotik des Aufschwellens und Spannens, die heute vor allem durch die plastische Chirurgie bedient wird: beim Aufspritzen von Lippen, den Brustvergrößerungen, den Busen-, Hals- und Hautstraffungen (Lifting), dem Fettabsaugen geht es immer darum, eine zugleich straffe und schwellende Form zu erreichen oder wieder zu erreichen.
Das Primat der psychischen Aufladung der Objekte von Ea Bertrams impliziert aber auch, dass deren Wahrnehmung sich nur beschränkt auf ästhetische Kategorien stützen kann. Viel stärker wirken diese Materialien und Objekte selbst expressiv, vorbegrifflich und leiblich expressiv. In ihnen geht es weniger um spezifisch ästhetische Gefühle, Empfindungen und Stimmungen, sondern um eine an den Körper rückgekoppelte Wahrnehmung, oder genauer: die leiblich mitvollziehende, mimetische Wahrnehmung der sich in ihnen verkörpernden libidinösen und aggressiven Affekte. Deren Wahrnehmung und Reflexion ist selbst eine ästhetische Tätigkeit, aber in einem erweiterten, vollständig säkularisierten Sinn des Ästhetischen: es geht um die Wahrnehmung von Empfindungen und Affekten, die sich als Aufladungen und Besetzungen von Materialien und Gegenständen verkörpern; Affekten, die potentiell jeder kennt, die aber normalerweise nicht in das Licht der bewussten Aufmerksamkeit und der analytischen Reflexion gerückt werden, die sehr oft sogar der Selbstwahrnehmung des Subjekts entgehen.
1 Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken (Paris 1962), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1968, S. 29 2 Lévi-Strauss, S. 30
3 Lévi-Strauss, S. 36
4 Lévi-Strauss, S. 33-34