Werner Meyer Kunsthalle Göppingen
Städtische Galerie Ostfildern 15.09.2006, 19.30 Uhr
Ea Bertrams. Gewebeproben
Meine Damen und Herren,
Zunächst möchte ich mit einem – zugegeben etwas rhetorischen – Geständnis beginnen: Als ich diese Arbeiten von Ea Bertrams zum ersten Mal im Atelier gesehen habe, war ich ziemlich sprachlos – ein gutes Zeugnis für die Kunst, nicht gerade eine gute Voraussetzung für eine Rede. Ich stelle mir vor, ich müsste am Telefon jemandem erzählen, was ich sehe – mir fehlen ganz einfach die passenden Worte. Aber genau dann wird es spannend für meine Augen, für mein Empfinden, wenn ich das, was sich da vor meinen Blicken ausdehnt, den Raum, hier und jetzt meinen, unseren Raum einnimmt, eben nicht so einfach benennen und in Worten fassen kann. Für dieses raumfüllende Gespinst gibt es keinen Namen, der die Erscheinung einfach enträtseln würde, keine Ordnung, die berechenbar wäre, kein Konzept, das ich auf seine Einlösung hin überprüfen könnte. Positiv formuliert: Wir haben ein plastisches, den Raum wie selten ganz einnehmendes Bild vor Augen, das als etwas weitgehend eigenes, abstrakt-konkretes den Raum einnimmt, für das es eigentlich nur einen Schlüssel gibt: das wortlose Erleben. Und wenn ein Kunstwerk dieses ganz ihm eigene Geheimnis so wirkungsvoll behauptet, dann hat es damit eine große künstlerische Qualität.
Gleichwohl kann man einiges entdecken und beobachten. Ea Betrams entwickelt einige ästhetische Prozesse, die auf die Wirkung des Bildes schließen lassen. Da gibt es die schweren sackähnlichen, prall gefüllten Gebilde, verbunden mit Schläuchen, aus graubraunem Baumwollstoff. Sie bilden eine ziemlich massive Wesenhaftigkeit, die das Ganze durchzieht. Umsponnen, eingesponnen wird dies durch das weiße, filigrane und transparente Netzwerk. Die Künstlerin arbeitet mit dem Kontrast von körperhaftem Hier und Jetzt und einer Leichtigkeit des Gespinsts, das sich mit der Zeit – man spürt förmlich die Dauer – dazwischen entwickelt und drum herum bildet.
Ich ahne den künstlerischen Prozess der Bildwerdung. Zunächst das intuitive Vorgehen, wie Ea Bertrams das Ganze sich langsam entwickeln lässt. Neben den Schläuchen und Säcken entstehen die Kordeln durch eindrehen und flechten von Nesselstreifen. Das hat schon beim Herstellen des plastischen Materials eine sicher große meditative Komponente. Durch verflechten, verknoten, durchziehen und verbinden entsteht das mal zunehmend dichter werdende, mal offene Gespinst, das im Schweben seine Transparenz zum Ausdruck bringt, eine fragile Leichtigkeit von Fäden, von dünnem, durchsichtigen Tuch dazwischen, das ganz unmittelbar die Zeit, das Empfinden von Raum, das Empfinden der Formen und ihrer möglichen Bedeutungen in der Schwebe hält.
Dieses In-der-Schwebe-Halten bzw. In-der-Schwebe-Sein ist zunächst einmal Form und Bedeutung des Kunstwerks. Darin können sich die Augen, kann sich unsere Wahrnehmung verfangen, kann sich der Blick bewegen. Die Stränge und Knoten bilden die Wege, die Richtungen, die Verdichtungen und die Flüchtigkeit, schaffen ästhetische Intensitäten und erlebte Zeit.
Das Ganze ist organisches Wachsen und Durchsetzen des kristallinen, geometrischen, architektonischen Raumes. Auch dieser unversöhnliche Kontrast zwischen geometrischer „Natur“ des architektonischen Raumes und der organischen, unberechenbaren „Natur“ des Kunstwerkes gehört zu der nachhaltigen Wirkung des plastischen Bildes.
Ich kann mich der Frage nicht entziehen, warum ich diese Arbeit so leicht als die einer Künstlerin, einer Frau identifizieren kann. Was ist daran weiblich – ich vermeide den Zusatz „typisch“ und begebe mich – als Mann allemal – auf dünnes Eis.
Nähen und vor allem Häkeln, das charakterisiert den künstlerischen Prozess und hat zumindest kulturell eine weibliche Konnotation. Petra von Olschowski zitiert in ihrem Katalogtext zu Ea Bertrams Werk Gudrun Inboden, die in dem Katalog „Weiblicher Logos“ schreibt: In unserer Kultur wird „das Weibliche außer mit dem sinnlich Körperhaften vor allem mit dem Nichtsprachlichen, Unbewussten, Intuitiven (…) identifiziert“. Ich bin froh, dass ich für diese These (Beobachtung) zwei Frauen zitieren kann. Ich würde dem noch hinzufügen, dass das Gefühl für organisches Wachsen, das in dem Werk so spezifisch zum Ausdruck kommt, eine vermutlich weibliche Komponente hat.
Mir ist noch das Spinnennetz als bedingt taugliche Bildreferenz eingefallen. Es ist meines Wissens das Beuteinstrument der weiblichen Spinne, das bei manchen Spinnenarten selbst der männlichen Spinne, gerade noch dem Trieb der Begattung verpflichtet, zum Verhängnis werden kann. Ich hoffe eine Spur gelegt zu haben, werde mich aber hüten, mit psychoanalytischen Klischees aufzuwarten. Vielleicht kommt es aber daher, dass wir ein solches Gespinst als schaurig-schön empfinden: schön als leichte, schwebende, eigensinnige Struktur; schaurig in der Gefahr, sich darin zu verfangen, sich zu verlieren.
So hält uns das Bild auf Distanz. Man kann sich nicht wirklich reinwagen, schon um das fragile Schweben und die feine Transparenz mit unserem bodenständigen Körper nicht zu zerstören. Anderes scheint sich darin verfangen zu haben, wenn man die eingeflochtenen Haare deuten will. Oder dies unterstützt einfach die Sinnlichkeit, die insbesondere mit langen Haar verbunden ist (auch wenn ich weiß, dass es Pferdehaar ist).
Und aus dem Fenster oben blicken sie mit einem Beamer auf die Konstruktion. Er projiziert, Sie werden es vielleicht nicht gleich erkennen, den nahsichtigen Blick mit der Videokamera auf ein Kuheuter auf einen der dicken Körper. Vielleicht hat das mit deuten zu tun: die Projektion einer anderen, assoziierten Beobachtung auf und in das Bild.
Wenn ich die skulpturale Installation abstrakt begreife, bleibt jedenfalls das organische Empfinden, eine eigene innere Welt, die wir auch als Blow-up einer inneren, mikrobiologischen Struktur, eines biologischen Gewebes erleben können. (Andere Arbeiten von Ea Bertrams legen eine solche Sichtweise durchaus nahe.) Das Thema Wachstum, Entwicklung, planlos allein der Intuition folgend, spielt für die Künstlerin eine wesentliche Rolle, für alle beteiligten Formen, Ich weiß, Ea Bertrams träumt davon, immer weiter zu machen, bis der ganze Raum gefüllt ist – ein work in progress, das nach innen in einer permanenten Verknüpfung wie nach außen in seiner Ausbreitung einer prinzipiellen Endlosigkeit verpflichtet ist.
Mit diesem mikrobiologischen Blick können wir auch die Stoffskulpturen begreifen mit ihren amorphen Körpern, manchmal mit Wurmfortsätzen und Ganglien ausgestattet. Einerseits haben diese großen / kleinen Körper – es fällt schwer, sie in normalen Dimensionen zu sehen – etwas kuscheliges, stofftierhaftes. Aber es handelt sich nicht um die niedliche Verkleinerung, die von den Stofftieren der Kindheit vertraut wäre, sondern ein merkwürdiger Eindruck der Vergrößerung hält uns auf respektvolle Distanz. Wenn sich solche „Wesen“ verbinden, suggerieren sie Vereinigung, nicht als erotische, sondern als elementare Verbindung und gegenseitiges Eindringen dieser Zellwesen.
Diese merkwürdigen elementar-biologischen „Wesen“ behalten genauso wie die große Installation ihr Geheimnis für sich. Manchmal nennt sie die Künstlerin rätselhaft „Schläfer“, als wenn diese, würden wir mit ihnen umgehen, lebendig, beweglich werden können, als Wesen aus einem uns sonst nicht zugänglichen Raum des Kosmos. Sie bleiben geheimnisvoll und fremd, mit gemischten Gefühlen zu betrachten, weil nichts von ihrem Potential benennbar oder berechenbar ist. Ich bin mir sicher, dass es eine große künstlerische Qualität dieser Skulpturen, dieser plastischen Bilder ist, Möglichkeiten ahnen, vielleicht hoffen oder fürchten zu lassen, ohne dass wir das Geheimnis lüften können.
Schließlich sehen wir eine Reihe von Leuchtkästen, die die Künstlerin mit „x-rays“ (Röntgenstrahlen) betitelt. Die Grundlage bilden Bilder des Kernspintomographen vom Innern des Kopfes der Künstlerin: das Innere in Scheiben geschnitten, als zweidimensionale Struktur. Die Künstlerin belässt es nicht bei dem faszinierenden (und mit erwartungsvoller Furcht besetzten?) Blick in den Schädel, in das Gehirn und seine geheimnisvollen organischen Netzwerke und Strukturen. Sie bearbeitet die Bilder im Computer (Rechner), vervielfältigt sie, spiegelt und verbindet sie zu manchmal kaleidoskopartigen Mustern, in denen Chaos und symmetrische Ordnung eine ganz anders faszinierende Symbiose eingehen. Wieder finden wir diese unendliche Fortsetzung, dieses in sich vielfach verflochtene Gespinst von Linien und Formen. Auch hier spielt die Transparenz eine Rolle (Leuchtkästen!), der Schnitt durch einen imaginären, organisch gefüllten Raum. Dieses Mal kontrastiert das Organische mit dem Architektonischen der musterhaften Ordnung um zentrale Punkte und die Achsen der Spiegelungen. Das suggeriert die Beherrschung des Geheimnisses (Traumas?) in einer Ordnung und in der bannenden und gebannten Magie des Ornaments. Das Bild ist wiederum nicht mehr und nicht weniger als der Ausschnitt einer möglichen endlosen Ausbreitung.
Das Muster und die Struktur bannt das, was in allen Werken von Ea Betrams eine treibende und dynamische Kraft ist: eine Unruhe, das Mögliche, das im nächsten Moment in Bewegung geraten könnte. Dies lässt uns ahnen, in dem Gespinst, in der merkwürdigen Ruhe der Stoffskulpturen oder in dem flimmernden Ornament, das sich aus Bildern des Innern des Gehirns zusammensetzt.
In den beiden Monitoren sehen Sie, meine Damen und Herren, Zeichnungen entstehen, sich entwickeln und vorüberziehen. „Tagebuch“ nennt die Künstlerin diese intuitiv und in gewisser Weise blind auf dem Bildschirm gezeichneten Formen und Spuren von Bewegungen. Zeichnen ist der Prozess des Denkens in der Kunst, wie schreiben bei sprachlichem Denken. Und jetzt vergleichen Sie das mit der Wirkung der großen Installation im Raum, wie diese in der abendlichen Beleuchtung auch noch Schatten wirft auf die Wände und damit Bilder von der Installation auf die Wand zeichnet. So entsteht ein mehrschichtiges Bild im Raum. Die Zeichnungen auf den Bildschirmen zeigen uns, die künstlerische Phantasie der Künstlerin Ea Bertrams denkt in ihrer Imagination auch so, wie sie den „realen“ Raum mit ihrer Arbeit so eindrucksvoll und eigensinnig einnimmt.
Jetzt habe ich meine „Sprachlosigkeit“ und die Kunstwerke wortreich umschrieben, hoffentlich ohne dem eigenen Hin- und Mitsehen ein Alibi zu verschaffen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Werner Meyer
Ostfildern, 15.09.2006